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Der Freund der Milliardäre
Maigrets pure Anwesenheit im Majestic hatte unvermeidlich etwas Feindseliges. Er bildete gewissermaßen einen Klotz, den die dort herrschende Atmosphäre nicht einzubeziehen vermochte.
Nicht daß er den Kriminalbeamten glich, wie sie in Karikaturen weithin dargestellt werden. Er trug weder einen Schnurrbart noch Schuhe mit dicken Sohlen. Seine Kleidung war aus recht feinem Tuch und gut geschnitten. Außerdem rasierte er sich jeden Morgen und hatte gepflegte Hände.
Aber sein Körperbau war grobschlächtig. Er wirkte übergroß und knochig. Harte Muskeln zeichneten sich unter der Jacke ab und zerbeulten schnell seine neuesten Hosen.
Er hatte vor allem eine ihm eigene Art, sich irgendwo hinzustellen, die selbst einigen seiner Kollegen mißfiel.
Sie drückte mehr als nur Selbstsicherheit aus und dennoch keineswegs Hochmut. Er trat auf wie ein geschlossener Block, und gleich hatte es den Anschein, als müsse sich alles an ihm brechen, ob er sich nun vorwärtsbewegte oder auf seinen leicht gespreizten Beinen stehenblieb.
Die Pfeife war zwischen die Zähne genietet. Bloß weil er sich im Majestic befand, nahm er sie noch lange nicht aus dem Mund.
Vielleicht wollte er mit diesem Verhalten im Grunde seinen Hang zur Gewöhnlichkeit, sein Selbstvertrauen zu erkennen geben?
In seinem dicken schwarzen Mantel mit dem Samtkragen war er in der hell erleuchteten Halle unmöglich zu übersehen, wo sich feine Damen wie herausgeputztes Hauspersonal in Wolken von Parfüm bewegten, spitz auflachten, tuschelten und einander lauthals begrüßten.
Er kümmerte sich nicht darum. Er blieb außerhalb dieses Treibens. Laute Jazzmusik drang aus dem Untergeschoß zu ihm herauf und stieß wie an eine undurchdringliche Wand.
Als er die ersten Stufen einer Treppe hinaufstieg, rief ihm der Liftboy nach und wollte ihm den Fahrstuhl anbieten. Aber er drehte sich nicht einmal um.
In der ersten Etage fragte ihn jemand:
»Suchen Sie etwas?«
Die Laute schienen nicht bis zu ihm zu gelangen. Er sah die mit roten Teppichen ausgelegten unendlichen Flure entlang, die einen schwindeln machen konnten, und ging weiter hinauf.
Im zweiten Stock entzifferte er, die Hände in den Taschen, die Nummern auf den Bronzeschildern. Die Tür von Zimmer 17 stand offen. Pagen in gestreiften Westen trugen die Koffer hinein.
Der Reisende, der den Mantel ausgezogen hatte und in seinem vornehmen Anzug sehr fein und schlank wirkte, rauchte eine Zigarette mit Pappmundstück, während er Anweisungen gab.
Nummer 17 war kein einfaches Zimmer, sondern ein vollständiges Appartement: Wohnraum, Arbeitszimmer, Schlafzimmer und Bad. Die Türen gingen zu einem abgeknickten Flur, in dessen Winkel ein ausladendes, halbrundes Sofa wie eine Bank an einer Kreuzung stand.
Dort setzte sich Maigret genau gegenüber der geöffneten Tür hin, streckte die Beine aus und knöpfte den Mantel auf. Pietr, der Lette, bemerkte ihn, gab jedoch weiter seine Anweisungen, ohne Überraschung oder Mißfallen kundzutun. Als die Hausdiener endlich das Gepäck auf den Ablagen abgestellt hatten, trat er selbst zur Tür, um sie zu schließen, wobei er jedoch den Kommissar einen Augenblick lang, bevor sie ins Schloß fiel, beobachtete.
Maigret hatte Zeit, drei Pfeifen zu rauchen und zwei Etagenkellner und ein Zimmermädchen fortzuschicken, die ihn nach dem Grund seines Wartens fragten.
Punkt acht Uhr trat Pietr, der Lette, aus seinem Appartement: noch schlanker und noch untadeliger als zuvor, in einem strenggeschnittenen Smoking, dem man den englischen Schneider ansah. Er war barhäuptig. Seine hellblonden, kurzgeschnittenen Haare begannen sich zu lichten. Ihr Ansatz lag weit zurück, gab eine etwas fliehende Stirn frei und ließ auf der Mitte des Schädels rosigschimmernde Haut ahnen.
Seine Hände waren schmal und weiß. An seinem linken Ringfinger trug er einen schweren Siegelring aus Platin, der mit einem gelben Diamanten verziert war.
Wieder rauchte er eine russische Zigarette mit langem Pappmundstück. Er ging nahe an Maigret vorbei, zögerte einen Augenblick, schaute ihn an, als verlocke ihn der Gedanke, ihn anzusprechen, und begab sich nachdenklich zum Aufzug.
Zehn Minuten später nahm er im Speisesaal am Tisch von Mr. Mortimer-Levingston und seiner Frau Platz, die im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit stand.
Die Perlen, die Mrs. Levingston um den Hals trug, waren eine Million Francs wert. Ihr Gatte hatte tags zuvor eines der größten französischen Automobilwerke wieder flottgemacht, von dem er sich selbstverständlich die Aktienmehrheit gesichert hatte.
Die drei plauderten vergnügt miteinander. Pietr, der Lette, redete viel, mit gedämpfter Stimme und leicht vorgebeugt. Er fühlte sich ausgesprochen wohl, und trotz der dunklen Silhouette Maigrets, den er hinter den gläsernen Flügeltüren in der Halle erkennen konnte, benahm er sich natürlich und ungezwungen.
Im Büro ließ sich der Kommissar die Liste der Fahrgäste geben. Ohne Überraschung las er an der Stelle, wo der Lette unterschrieben hatte: Oswald Oppenheim aus Bremen, Reeder.
Zweifellos hatte er einen gültigen Paß und alle sonstigen Ausweispapiere auf diesen Namen, wie er sie auch auf alle möglichen anderen Namen besaß.
Ebensowenig war zu bezweifeln, daß er den Mortimer-Levingstons bereits andernorts begegnet war, in Berlin, Warschau, London oder New York.
War er nur in Paris, um sie zu treffen und eine seiner gewaltigen Gaunereien zu verüben, auf die er spezialisiert war?
Auf der Karteikarte, die Maigret in der Tasche hatte, hieß es:
»Außerordentlich geschicktes und gefährliches Individuum unbekannter Nationalität, aber nordischer Herkunft. Er wird für einen Letten oder Esten gehalten; er spricht fließend russisch, französisch, englisch und deutsch.
Da er sehr gebildet ist, gilt er als Chef einer mächtigen internationalen Bande, die vor allem auf Betrug spezialisiert ist.
Diese Bande war nacheinander in Paris, Amsterdam (Affäre van Heuvel), Bern (Affäre der Reedervereinigung), Warschau (Affäre Lippmann) und verschiedenen anderen europäischen Städten am Werk, wo ihr Vorgehen nicht so eindeutig identifiziert werden konnte.
Die Komplizen von Pietr, dem Letten, scheinen überwiegend aus dem angelsächsischen Sprachraum zu kommen. Einer von ihnen, der sehr häufig mit ihm zusammen gesehen und erkannt worden ist, als er den gefälschten Scheck bei der Berner Bundesbank vorlegte, ist bei seiner Festnahme getötet worden. Er gab sich als ein gewisser Major Howard von der ›American Legion‹ aus, man hat jedoch feststellen können, daß er ein ehemaliger Alkoholschmuggler aus New York war, der in den Vereinigten Staaten unter dem Spitznamen ›Dicker Fred‹ bekannt war.
Pietr, der Lette, ist zweimal verhaftet worden. Das erste Mal in Wiesbaden, weil er einen Münchner Kaufmann um eine halbe Million Mark gebracht hatte, und das zweite Mal in Madrid wegen einer ähnlichen Geschichte, deren Opfer eine bedeutende Persönlichkeit am spanischen Hof war.
In beiden Fällen bediente er sich der gleichen Taktik. Er hatte eine Unterredung mit seinem Opfer, bei der er zweifellos beteuert hat, daß sich die gestohlenen Gelder in Sicherheit befinden und daß man sie nach seiner Haft gewiß nicht wiederfinden würde.
Beidemal wurde die Klage zurückgezogen, die Kläger sind wahrscheinlich entschädigt worden.
In der Folgezeit wurde er nie wieder auf frischer Tat ertappt.
Vermutliche Zusammenarbeit mit der Bande Maronnetti (Falschgeld und Urkundenfälschung) und der Kölner Bande (gen. die Mauerbohrer).«
Blieb noch ein Gerücht, das bei allen europäischen Polizeiämtern umging: Pietr, der Lette, Chef und ›Kassierer‹ einer oder mehrerer Banden, mußte einige Millionen verwalten, die unter verschiedenen Namen auf Banken verstreut, genauer, in Industrieunternehmen investiert waren. Er lächelte leicht, während er Mrs. Mortimer-Levingston zuhörte, die ihm eine Geschichte erzählte, und seine weiße Hand pflückte prächtige Beeren von einer Weintraube.
»Verzeihen Sie, hätten Sie vielleicht einen Augenblick für mich Zeit?«
Es war Maigret, der sich in der Halle des Majestic an Mortimer-Levingston wandte, nachdem Pietr, der Lette, wie auch die Amerikanerin sich wieder in ihre Zimmer begeben hatten.
Mortimer hatte absolut nichts von der sportlichen Erscheinung der Yankees. Er gehörte eher dem romanischen Typus an.
Er war lang und zierlich. Seinen winzigen Kopf bedeckte schwarzes, in der Mitte gescheiteltes Haar.
Er schien ständig müde zu sein. Seine Augenlider waren schlaff, bläulich. Er führte übrigens ein anstrengendes Leben, mußte mal in Deauville, in Miami oder am Lido, in Paris, Cannes oder Berlin erscheinen, irgendwo auf seine Yacht stoßen, Geschäfte in einer europäischen Hauptstadt abwickeln und Schiedsrichter bei den größten Boxkämpfen in New York oder in Kalifornien spielen.
Er sah Maigret von oben herab an. Und ohne die Lippen zu bewegen, säuselte er:
»Sie sind …?«
»Kommissar Maigret von der Kriminalpolizei.«
Mortimer runzelte kaum die Brauen und blieb einen Augenblick vorgeneigt, als habe er sich entschlossen, ihm nicht mehr als eine Sekunde zu gewähren.
»Wissen Sie, daß Sie gerade mit Pietr, dem Letten, zu Abend gegessen haben?«
»Ist das alles, was Sie mir mitzuteilen haben?«
Maigret zuckte nicht mit der Wimper. Das waren genau die Worte, die er erwartet hatte.
Er schob seine Pfeife wieder zwischen die Zähne – denn er hatte geruht, sie herauszunehmen, als er den Milliardär ansprach – und brummte:
»Das ist alles!«
Er schien mit sich zufrieden zu sein. Levingston wandte sich eiskalt ab und verschwand im Fahrstuhl.
Es war kurz nach halb zehn. Das Unterhaltungsorchester, das während des Abendessens gespielt hatte, räumte seinen Platz für die Jazzmusiker. Von draußen kamen Gäste herein.
Maigret hatte noch nicht gegessen. Ohne Ungeduld zu zeigen, blieb er mitten in der Halle stehen. Der Geschäftsführer warf ihm von weitem immer noch beunruhigte und unfreundliche Blicke zu. Selbst die einfachsten Hotelangestellten setzten eine schroffe Miene auf, wenn sie dicht an ihm vorbeikamen und ihn sogar wie unabsichtlich anrempelten.
Das Majestic verkraftete ihn nicht. Hartnäckig bildete er einen großen, schwarzen unbeweglichen Fleck in all diesem Goldglanz, unter den Lichtern, im Hin und Her der Abendkleider und Pelzmäntel, der parfümierten und rauschenden Gestalten.
Mrs. Mortimer trat als erste aus dem Fahrstuhl. Sie hatte die Garderobe gewechselt. Ihre nackten Schultern umhüllte ein mit Hermelin gefüttertes Cape aus Goldlamé.
Sie schien erstaunt, noch niemanden vorzufinden, und begann auf und ab zu gehen, wozu ihre hohen vergoldeten Absätze den Takt schlugen.
Plötzlich blieb sie vor der Mahagonitheke stehen, hinter der Angestellte und Dolmetscher standen, und sagte ein paar Worte zu ihnen. Einer der Bediensteten drückte auf einen roten Knopf und nahm einen Telefonhörer ab.
Er wunderte sich und rief einen Boy, der zum Aufzug stürzte. Mrs. Mortimer war sichtlich beunruhigt. Durch die Glastür konnte man am Straßenrand die weichen Linien einer amerikanischen Limousine erkennen.
Der Page kehrte zurück und sprach mit dem Angestellten, der sich daraufhin Mrs. Mortimer zuwandte. Sie widersprach. Sie mußte etwas sagen:
»Das ist unmöglich!«
Da ging Maigret die Treppe hinauf, blieb vor Zimmer 17 stehen und klopfte an die Tür. Wie er nach dem soeben Erlebten erwartet hatte, erhielt er keine Antwort.
Er öffnete und fand den Wohnraum leer. Im Schlafzimmer war der Smoking Pietrs, des Letten, nachlässig auf das Bett geworfen. Ein Schrankkoffer stand offen. Die Lackschuhe lagen weit voneinander entfernt auf dem Teppich herum.
Der Geschäftsführer kam, brummte:
»Sie sind schon hier? …«
»Nun? … Abgehauen, was? … Levingston auch! … Stimmt’s?«
»Allerdings sollte man nichts dramatisieren. Sie sind beide nicht in ihren Zimmern, aber sicher werden wir sie in irgendeiner Ecke des Hotels finden.«
»Wie viele Ausgänge?«
»Drei … Den zu den Champs-Elysées … Den zu den Arcades und dann den Dienstboteneingang, Rue de Ponthieu.«
»Gibt es da einen Portier? … Rufen Sie ihn.«
Das Telefon läutete. Der Geschäftsführer war wütend. Er regte sich über einen Telefonisten auf, der ihn nicht verstand. Der Blick, mit dem er Maigret festhielt, war nicht gerade wohlwollend.
»Was hat das zu bedeuten?« fragte er, während er auf den Portier des Personalausgangs wartete, der in einer kleinen verglasten Loge seinen Dienst tat.
»Nichts, oder fast nichts, wie Sie meinten …«
»Ich hoffe, es handelt sich nicht um ein … ein …«
Das Wort Verbrechen, der Alptraum aller Hoteliers der Welt, vom bescheidenen Zimmervermieter bis zu den Geschäftsführern der Palasthotels, war ein zu großer Brocken für ihn.
»Wir werden ja sehen.«
Mrs. Mortimer-Levingston erschien und fragte:
»Nun, und?«
Der Geschäftsführer verneigte sich, stotterte irgendwas. Am Ende des Korridors tauchte die Gestalt eines kleinen alten Mannes mit schmutzigem Bart und schlechtsitzender Kleidung auf, die nicht recht in den Rahmen des Hotels passen wollte. Er gehörte natürlich zu denen, die hinter den Kulissen zu bleiben hatten, andernfalls trüge auch er eine schöne Uniform und würde jeden Morgen rasiert.
»Haben Sie jemanden das Hotel verlassen sehen?«
»Wann?«
»Vor wenigen Minuten.«
»Jemanden aus der Küche, glaube ich … Ich habe nicht darauf geachtet … Ein Mann mit einer Mütze …«
»Klein, blond?« unterbrach ihn Maigret.
»Ja, ich glaube … Ich habe nicht genau hingeschaut … Er ging schnell …«
»Sonst noch jemand?«
»Ich weiß nicht … Ich bin zur Ecke und hab mir eine Zeitung gekauft …«
Mrs. Mortimer-Levingston verlor die Geduld.
»Wie? … Nennen Sie das suchen?« rief sie zu Maigret gewandt aus. »Man hat mir eben gesagt, daß Sie von der Polizei sind … Mein Mann ist vielleicht getötet worden … Was warten Sie hier noch?«
Der Blick, der auf ihr ruhte, war typisch für Maigret. Eine Ruhe! Eine Gleichmütigkeit! Als hätte er lediglich das Summen einer Fliege vernommen! Als hätte er etwas gänzlich Belangloses vor sich.
Sie war es nicht gewohnt, derartig angeblickt zu werden. Sie biß sich auf die Lippen, lief unter ihrem Make-up purpurrot an und stampfte vor Ungeduld mit dem Fuß auf den Boden.
Er schaute sie immer noch an.
Zum Äußersten getrieben oder weil ihr vielleicht nichts anderes einfiel, bekam sie einen Nervenzusammenbruch.